Angewandte Reinheit

BLOG: Heidelberg Laureate Forum

Laureates of mathematics and computer science meet the next generation
Heidelberg Laureate Forum

Es gibt in der Wissenschaft eine kanonische Reihenfolge der Fachgebiete nach ihrer “Reinheit” – wie dieser xkcd-Cartoon zeigt:

Bild: Randall Munroe, xkcd [http://xkcd.com/435/]
Wenig überraschend sind vor allem Mathematiker und Physiker dieser Sicht der Dinge zugetan – aber darum geht es mir hier nicht. Die Reinheitsabfolge kann man auf verschiedene Weisen sehen. Zum einen ist es eine Ordnung nach der Strenge des Fachgebiets. Mathematiker können definitive Beweise aufschreiben. Physiker sind da schon angreifbarer, denn sie müssen Experimente machen; außerdem arbeiten sie immer mit Modellen der Wirklichkeit. Aber immerhin haben es die Physiker noch mit den grundlegenden Bausteinen zu tun! Die allermeisten Chemiker wiederum müssen sich nicht mit der Komplexität lebender Systeme herumschlagen; die allermeisten Biologen nicht mit den Eigenheiten bewusster Versuchsobjekte, und so weiter.

Diejenigen, die in dieser speziellen Hierarchie weiter unten (bzw. im Cartoon oben weiter links) stehen, können immerhin argumentieren, dass sie näher an der menschlichen Erfahrung angesiedelt sind, und in diesem Sinne näher am “wirklichen Leben”: der Gesellschaft, in der wir Leben, unser Denken, unsere Körper und die Art und Weise, wie sie funktionieren.

Aber es gibt gerade in Mathematik und Computerwissenschaften Abkürzungen vom Reinen ins Angewandte, die das HLF mit seiner Laureaten-Mischung besonders reizvoll machen.

Vielleicht das beste Beispiel: Zahlentheorie, also die Untersuchung der Eigenschaften der ganzen Zahlen, ist sicherlich eines der grundlegendsten und damit reinsten Teilgebiete der Mathematik. Andererseits ist das Gebiet eng mit der Kryptografie verquickt – und die ist, nicht erst seit den Enthüllungen über PRISM und ähnliche Programme, durchaus alltagsrelevant. Für eine solche direkte Abkürzung ist  Shafi Goldwasser, die auch zum HLF kommt, ein gutes Beispiel – mit Begriffen wie Geheimhaltung und der Sicherheit von Verschlüsselungen, die sie auf eine strenge mathematische Grundlage gestellt hat.

Viele weiterer solcher direkten Verbindungen sind möglich – Computer selbst fallen ja ebenfalls in diese Kategorie, mit der Turing-Maschine sowohl als abstraktes Werkzeug für Entscheidbarkeits- und Beweisbarkeitsprobleme als auch als Modell für die tatsächlichen Prozessoren, die in Computern arbeiten.

Es wird am HLF genügend (pardon: hinreichend viel) mathematische Reinheit geben – aber eben auch direkte, manchmal unerwartete Querverbindungen zur Anwendung.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

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