Mathematik rückwärts? Eine Einführung in die “Reverse Mathematik”

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Einer der PostDoc-Workshops des Heidelberg Laureate Forums am Montagnachmittag trug den ungewöhnlichen Titel “An Introduction to Reverse Mathematics” (TB: wörtlich “Eine Einführung in die umgedrehte Mathematik“). Gut, zugegeben, mein Mathematikstudium liegt inzwischen auch eine gewisse Zeit zurück – aber trotzdem, umgedrehte Mathematik? Das Konzept war mir so noch nicht begegnet, meine Neugierde war geweckt.

Und siehe da, Sam Sanders konnte bereits mit der ersten Folie seines Workshopvortrags für etwas mehr Klarheit sorgen: Reverse Mathematik (wie die korrekte deutsche Fachbezeichnung lautet) beschäftigt sich mit der Klassifikation von mathematischen Theoremen in verschiedene Gruppen nach gewissen logischen Kriterien. Und wie sich im weiteren Verlauf der Präsentation zeigte, handelt es sich dabei auch tatsächlich ein klein wenig um Mathematik rückwärts: Während Mathematiker normalerweise versuchen, aus anfänglichen Annahmen (sogenannten Axiomen) allein unter Verwendung von in diesen Annahmen enthaltenen Eigenschaften neue Schlussfolgerungen und Einsichten abzuleiten, kehrt die Reverse Mathematik diesen Prozess einfach um. Anstelle Theoreme aus Axiomen herzuleiten, wird vielmehr ein einzelnes Theorem (also ein Endprodukt des mathematischen Standardprozesses) ausgewählt, und gefragt, welche Anfangsannahmen mindestens benötigt werden, um das Theorem daraus ableiten zu können. Man sucht also ein minimales erzeugendes Axiomensystem zu einem vorher festgelegten Theorem – und gruppiert anschließend verschiedene Theoreme, welche das gleiche minimale erzeugende System haben, sodann in die selbe Familienkategorie.

Die Grundidee, wie eine passende Annahmenmenge als Grundlage einer Schlussfolgerung gefunden werden kann, ist dabei relativ simpel: Man sucht sich eine Auswahl an Anfangsaxiomen, welche in ihrer Gesamtheit gewisse gewünschte Eigenschaften hat, aber dennoch zunächst zu schwach ist, um das anfänglich festgelegte Theorem zu beweisen. Nichtsdestotrotz sollten die Annahmen dafür ausreichen, die in der angestrebten Schlussfolgerung vorkommenden Grundbegriffe entwickeln zu können. Hat man nun ein entsprechendes Kernsystem zur Hand, erweitert man dieses Kernsystem um weitere Annahmen, welche es zulassen, das gesamte Theorem (und nicht nur die einzelnen Basisbausteine) abzuleiten – und beweist abschließend in einem zweiten Schritt, dass die entstandene neue Sammlung an Axiomen tatsächlich eine minimale Auswahl darstellt, d.h., dass es keine kleinere Sammlung gäbe, welche auch als Grundlage des vollen Theorems dienen könnte.

Man wendet Methoden der Mathematik darauf an, Mathematik zu analysieren? Ja, die metaphorische Katze beißt sich (zumindest ein wenig) tatsächlich in den eigenen Schwanz. Jedoch ist hier eine wichtige Unterscheidung zu treffen, nämlich die Grenzziehung zwischen logischen Formeln mit mathematischer Bedeutung (also quasi interpretierten formalen Elementen einer Theorie) und “rein logischen” Formeln: Anders gesagt der Unterschied zwischen Untersuchungsgegenstand (Formeln mit zugeordneten mathematischen Konzepten) und der Formalisierung als Arbeitsgrundlage (des logiksprachlichen Beschreibungswerkzeugs zur Charakterisierung und Analyse von Eigenschaften der mathematischen Konzepte).

Mathematische Logik erlaubt es also, grundlegende Aussagen über die fundamentalen Strukturen ganzer mathematischer Teilbereiche zu treffen, oder unerwartete Zusammenhänge zwischen Ergebnissen in an sich scheinbar weitestgehend unabhängigen Gebieten aufzuzeigen. Ein im Workshop zur Sprache gekommenes Beispiel schlug hierbei etwa die Brücke zwischen der theoretischen Informatik und der mathematischen Analysis: Eine Frage aus der formalen Berechenbarkeitstheorie, das sogenannten Halteproblem (welches nach der Endlichkeit von Algorithmen fragt), ist hierbei beweisbar äquivalent zum Satz von Bolzano-Weierstraß (der eine Aussage über die Existenz von konvergenten Teilfolgen in gewissen unendlichen Folgen komplexer Zahlen trifft). Eine Korrespondenz, welche (zumindest für mich) auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist!

Entsprechend stand am Ende der Einführung dann auch ein schönes Zitat von Augustus De Morgan, welches eben das (in der Vergangenheit oftmals vernachlässigte) Verhältnis zwischen Logik und Mathematik thematisiert: “Die zwei Augen der präzisen Wissenschaft sind die Mathematik und die Logik, die mathematische Sekte sticht das logische Auge aus, die logische Sekte sticht das mathematische Auge aus; jede glaubt, sie sehe mit einem Auge besser, als mit zwei.” (Übersetzung ins Deutsche: TB).

Abschlussfolie des Einführungsvortrags: Zitate von Augustus de Morgan und Kurt Gödel
Abschlussfolie des Einführungsvortrags zu “Reverser Mathematik”

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arbeitet als PostDoc zu verschiedenen Themen aus dem Dunstkreis "Künstliche Intelligenz und Künstliche Kreativität" am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück. Vor seiner Promotion in Kognitionswissenschaft hatte er Mathematik mit Nebenfach Informatik studiert, und ein einjähriges Intermezzo als "Logic Year"-Gaststudent an der Universität Amsterdam verbracht. Neben seiner eigentlichen Forschungsarbeit engagiert er sich als Wissenschaftskommunikator (zweiter Gewinner des 2013er Falling Walls Lab "Young Innovator of the Year"-Preises), Mitveranstalter von Wissenschaftsevents und gelegentlicher Autor des Analogia-SciLogs-Blog tätig.

6 comments

  1. Die zwei Augen der präzisen Wissenschaft sind die Mathematik und die Logik, die mathematische Sekte sticht das logische Auge aus, die logische Sekte sticht das mathematische Auge aus; jede glaubt, sie sehe mit einem Auge besser, als mit zwei.

    Gemeint hier wohl weniger das, was sich mit der Natur beschäftigt, die derart genannte Wissenschaft, sondern die Tautologie, die sich als Mutter der Wissenschaften in Form der Philosophie, in abgeleiteter Form in der Kunst des Lernens (“Mathematik”) ausdrückt, dabei eine Sprachlichkeit (“Logik”) benötigt.

    Ja!, fein formuliert!

    Wobei die Logik ein Teilbereich der Mathematik ist, zudem es auch unterschiedliche Mathematiken und Logiken geben kann.

    IdT faszinierend,
    MFG
    Dr. W

  2. Reverse Mathematics scheint mir trotz des offensichtlich spektakulären Titels der Veranstaltung am Ende doch ein wenig wie “alter Wein in neuen Schläuchen”.
    In der Theoretischen Informatik bzw. der “Künstlichen Intelligenz” hat man unter anderem an sogenannten “Theorembeweisern” (theorem prover) oder “Modellprüfern” (model checking) gearbeitet, weshalb ich jedem, der am Thema interessiert ist, empfehlen kann auch mal in diese Richtung die Fühler auszustrecken.

  3. Reverse Mathematics scheint mir trotz des offensichtlich spektakulären Titels der Veranstaltung am Ende doch ein wenig wie “alter Wein in neuen Schläuchen”.
    In der Theoretischen Informatik bzw. der “Künstlichen Intelligenz” hat man unter anderem an sogenannten “Theorembeweisern” (theorem prover) oder “Modellprüfern” (model checking) gearbeitet, weshalb ich jedem, der am Thema interessiert ist, empfehlen kann auch mal in diese Richtung die Fühler auszustrecken.

  4. @Gustav Gans: Reverse Mathematik wie hier beschrieben scheint mir im Vergleich zu Theorembeweisrn noch eine Abstraktionsstufe weiter oben zu liegen. Theorembeweiser werden ja oft für die Verifikation von annotierten Programmfragmenten benutzt. Hierbei ist aber das zugrundeliegende Axiomensystemen schon bekannt und es muss nur noch die passende Folge von Reduktionen gefunden werden, die das annotierten Programm schließlich “beweisen”. So wie ich die Reverse Mathematik aber verstehe ist hier wirklich kreative, kaum automatisierbare Arbeit zu leisten um ein Axiomensystemen zu finden, aus welchem man dann das Theorem herleiten kann. Es ist also etwas ganz anderes gesucht als beim Theorem Prover, nämlich kein Prove basierend auf einem vorausgesetzten Axiomensystemen, sondern das Axiomensystem selbst.

  5. @Martin Holzherr

    Vermutlich haben Sie recht und mein Vergleich mit Theorem Provern war doch etwas vorschnell.

    • Vor allem ist in vielen Anwendungsfällen auch die Motivation eine (etwas) andere: Häufig geht es nicht nur darum, ein minimales Axiomensystem zu finden, sondern es spielt auch der Gedanke eine Rolle, sich nur auf ausgewählte Axiome zu beschränken – hierbei natürlich bevorzugt auf gewisse intuitiv plausible Annahmen. Insofern ist die Frage oftmals auch “kann ich Theorem X erhalten, obwohl ich nur folgende (mir wohl bekannte und plausibel erscheinende) Axiome A, B, C, und D, zur Verfügung habe”. Wodurch wiederum manche nicht ganz so zugängliche Anfangsannahme ausgeschlossen werden kann (falls das gewählte Axiomensystem denn auch wirklich ausreicht).

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